Ein Film von Julia Gutweniger & Florian Kofler
VISTA MARE
In strenger Formation. Noch werden die letzten Vorbereitungen getroffen,bevor die Sehnsuchtsmaschine temporär auf Vollbetrieb schaltet. Über eine gesamte Saison hinweg rückt VISTA MARE die versteckten Arbeitsprozesse hinter dem good life der nordadriatischen Tourismuszentren in den Fokus.
Dass was notwendig ist, damit dem „italienischen Lebensgefühl“ ungestört gefrönt werden kann. Zu herrlich entrückten Soundscapes entfaltet sich ein poetisches Urlaubs-Diorama, eine fast surreal anmutende dokumentarische Observation, die Verklärung entlarvt, ohne zu entzaubern. Und es hallt leise „Coco bello!“
Sommer für Sommer zieht es Millionen von Urlaubstourist:innen an die endlos scheinenden Sandstrände zwischen Lignano, Jesolo und Riccione. Reihe um Reihe prägt das Heer von bunten Sonnenschirmen die Landschaft und im vergnügten Lärm der touristischen Massen macht die „größte Badewanne Europas“ ihrem Namen alle Ehre.
Doch hinter all dem sommerlichen „dolce far niente“ verbirgt sich ein gigantisches System des Massentourismus, das die industrialisierte Abfertigung der Urlaubsmassen erst möglich macht. VISTA MARE blickt hinter die Kulissen dieses Betriebssystems, sucht die Nähe zu den Menschen, die es am Laufen halten, und erzählt von ihren Arbeitsrealitäten zwischen Plastikpalmen und Tretbooten.
Im Schatten der vermeintlichen Urlaubsidylle macht der Film jene sichtbar, die dafür arbeiten, dass andere unbeschwert ihre Ferien in vollen Zügen genießen können. Zwischen nostalgisch verklärtem Sommertraum und prekären Saison-Verträgen sucht VISTA MARE nach den Bruchlinien im Kosmos Strand, zeigt in filmisch präzisen Bildern die Widersprüche und Abgründe im System Adria und stellt dabei die exemplarische Grundsatzfrage nach den Bedingungen im Inneren der touristischen Sphäre.
Regie: Florian Kofler, Julia Gutweniger / Drehbuch: Julia Gutweniger, Florian Kofler / Kamera: Julia Gutweniger / Schnitt: Julia Gutweniger, Florian Kofler / Musik: Gabriela Gordillo / Ton: Florian Kofler / Produktion: Eutopiafilm, Albolina Film
Filmstart in Österreich: 5. April 2024
Auszüge aus einem INTERVIEW mit Julia Gutweniger und Florian Kofler
Am Ende unseres Gesprächs über Ihren ersten langen Dokumentarfilm Sicherheit123 (2019) erzählten Sie, dass sie Rettungsschwimmer an italienischen Badestränden gefilmt hatten, die Material für einen neuen Film liefern könnten. Thematisch hatten Sie erste Ideen, doch es ging in eine andere Richtung. Gehört es zu Ihrer Methode als Künstler, die sehr stark von der Bildebene kommen, sich zunächst intuitiv von den Bildern leiten zu lassen, ehe sich ein thematischer Fokus herauskristallisiert?
JULIA GUTWENIGER: Das ist gut möglich. Ich würde sagen, wir ergänzen uns da recht gut, und bei diesem Thema waren die Bilder vermutlich vorher da. Die Aufnahmen, die wir in diesem letzten Gespräch angesprochen haben, gehen auf eine Videoinstallation zurück, die wir zwischen den beiden Filmen gemacht haben. Dafür sind wir den gesamten italienischen Stiefel entlanggefahren und haben Rettungsschwimmer:innen bei ihrer Arbeit beobachtet. Inmitten des sommerlichen Treibens, wo sich die Welten der Nicht-Arbeit und der Arbeit unmittelbar treffen, ist die Idee zu unserem aktuellen Film VISTA MARE entstanden, der sich für die sehr oft unsichtbare Arbeit an den italienischen Adriastränden interessiert.
Eine Einstellung in VISTA MARE, die Ihren filmischen Ansatz auf den Punkt bringt, sind die Fassadenpanele die die Illusion erzeugen, in einem Kanal von Venedig zu sein und der Schnitt auf das, wie es dahinter aussieht. Haben Sie sich für ein Spannungsfeld an Oppositionen interessiert: die Fassade und das Dahinter, die immens harte Arbeit der einen, die das Nichts-Tun der anderen zum Erlebnis machen?
JULIA GUTWENIGER: Genau für diese Parallelwelten haben wir uns interessiert. Die einen, die gerade Urlaub machen und die anderen, die gerade arbeiten – mit Meerblick. In dieser Einstellung gehen wir im wahrsten Sinne des Wortes hinter die Kulissen der Urlaubswelt, zu den Arbeiter:innen.
FLORIAN KOFLER: Diese binären Orte begleiten uns schon lange. Wenn man im Februar dort ist, dann sind es Orte, die quasi außer Betrieb sind. Formal haben sie etwas von Ruinen, erinnern an postapokalyptische Szenarien, aber in der Saison werden es wieder zu Orten, die massiv leben und beben. Die Orte, in denen wir gedreht haben, haben den Charme der Tourismuswelle der Nachkriegsjahre, wo das deutsche Wirtschaftswunder sehr viel Wohlstand nach Italien gebracht hat. Man sieht das jetzt noch an der Architektur, dass der Tourismus in einer gewissen Zeit seinen Höhepunkterlebt hat. Es wirkt alt und ist gleichzeitig hybrid, weil er wächst und ständig modifiziert wird. Die Idee dahinter und das System sind dennoch unverändert.
An welchen Orten haben Sie gedreht?
JULIA GUTWENIGER: Wir haben in den Hochburgen des italienischen Sommertourismus, zwischen Lignano und Riccione, gedreht.
FLORIAN KOFLER: Das ist ein Küstenstreifen von etwa 300 km. Wir haben uns die italienischen Tourismusstatistiken angeschaut. Da sind Rom, Venedig, Mailand und dann kommen aber schon Cavallino Treporti oder San Michele al Tagliamento und man fragt sich – Was sind das für Orte? Wie ist das möglich? Es sind die Orte im Herz des Adria-Tourismus. Dörfer oder Kleinstädte mit einigen Tausend Einwohnern, aber Millionen von Urlaubsgästen.
Haben Sie mit den Menschen auch Gespräche geführt oder alles aus der Beobachtung entnommen?
FLORIAN KOFLER: Sicher haben uns die Leute auch viel erzählt, aber während der Saison hat niemand Zeit für Gespräche, weil gearbeitet werden muss. In unserer filmischen Form ist es uns sehr wichtig, eine gewisse Distanz und damit eine Reflexionsebene einzuräumen. Wir sind sozusagen neu dort und schauen zu.
Was Sie aber zeigen, ist die Monotonie der Arbeit, die auch in der Menschenmenge etwas wie Fließband hat (ich denke an das Umlenken in der Rutsche) und auch etwas an der Würde kratzt, wenn man in der Hitze im Entenkostüm auftritt, in das man nur mit fremder Hilfe überhaupt hineinschlüpfen kann.
JULIA GUTWENIGER: Im Film sehen wir die Frau in der Rutsche, die die Touristen weiterschiebt, einmal; von außen betrachtet wirkt ihre Arbeit vielleicht absurd, aber sie macht das in der Saison ja tagein, tagaus. Das Tolle ist, sie macht diese Arbeit mit persönlichem Einsatz, sie hält dabei stoisch ihr Lächeln und macht ihren Job mit einem gewissen Stolz oder einer Art Leidenschaft.
FLORIAN KOFLER: Ich denke an einen Film von Pier Paolo Pasolini über einen römischen Jungen, der mit seinem Brotkorb immer zu den Villen der Reichen muss, aber er lässt sich nicht unterkriegen. In seiner sozialen Gruppe hat er seinen Wert und ein Netz.
Bei vielen der Menschen, die wir im Laufe der Dreharbeiten kennengelernt haben, hatte ich oft ein ähnliches Gefühl.
JULIA GUTWENIGER: Es liegt uns auch fern, hier zu werten oder über einen Kamm zu scheren, nicht alle Leute mit eigenartigen Jobs sind oder fühlen sich als Opfer, manche machen ihren Job durchaus gern und sehen Vorteile, andere hadern. Einige hinterfragen ihre Situation nicht, weil es einfach das ist, was man schlichtweg tun muss, um ein Einkommen zu erarbeiten. Es gibt im Trubel einer Saison jedoch für viele genügend Gelegenheiten, Arbeitskräfte auszunutzen oder unfair zu behandeln.
Interview:
Karin Schiefer
Fotoquelle/Fotorechte:
Filmladen
Italienischer Film - Neu im Kino