Prä-App-ische Liebeserklärung
SEITENWEISE BAHNGLEISE
Ich kannte sie auswendig, ich war ein wahrer Zugvogel. Hauptstrecken sowieso, Nebenstrecken teilweise. Dies hatte damit zu tun, dass ich in meinen Anfangsjahren als Sprachreiseveranstalter Italien ausschließlich mit dem Zug bereiste.
Zumindest war das so in den 1990er Jahren. Beim Stöbern in alten Geschäftsunterlagen fiel mir vor ein paar Stunden ein Exemplar meines wichtigsten Zugbegleiters in die Hände, seitdem kann ich es kaum weglegen. Die Rede ist von der zwei Mal pro Jahr erscheinenden Bibel der Zugreisenden, dem Fahrplanbuch der FS - Ferrovie statale.Ich schwelge in Erinnerungen an meinen damaligen Versuch, Strecken zwischen den zu besuchenden Sprachschulen zu optimieren.
Man kam nicht so ohne weiteres an diesen Reiseroutenermöglicher heran. Einmal pro Jahr pilgerte ich in Wien an den Kärntnerring, wo sich unweit der Oper damals das Büro der FS wie auch der ENIT befand. Dort konnte man für ein paar tausend Lire oder viel weniger Schilling ein Exemplar erstehen. In Zeiten von downloadbaren Apps scheint dieser Aufwand schwer vorstellbar.
Nach zwei, drei Jahren und unzähligen Gleiskilometern war die Welt der Regionale, IR, Eurocity & Co zu meiner geworden. Italien hatte und hat noch immer ein unglaublich dichtes Streckennetz. Und Pünktlichkeit war auch südlch des Brenners fast immer gegeben. Und wenn nicht, bald schon der nächste Anschlusszug.
Importante war es, sich die wichtigsten Zugnummer einzuprägen, damit man am Binario flink reagieren konnte. Legendär und sehnsuchtsbeladen die maschinengenerierten Lautsprecherdurchsagen "Interregionale 392 per Bologna, proveniente di Venezia Santa Lucia in arrivo al binario 3. Prossime fermate: Padova, Abano Terme, Rovigo, Ferrara, Bologna Centrale ..." Worauf hin sich ganze Scharen von Kurz- oder Langstreckenreisenden auf den Weg durch den Bahnhofsbauch von Padua machten.
Die Züge der FS waren jener Ort, an dem ich möglicherweise am meisten über Italien, über Land und Leute erfuhr. Der Ort, an dem ich meine Italienischkenntnisse "streckenweise" anwenden konnte, gestresste Firmenmenschen, verliebte Paare, traurige Studenten am Weg zur Universität und Reisende aus der ganzen Welt kennenlernen durfte.
Diese Orte der Begegnung gerieten aufgrund von leistbaren Alternativen in luftigen Höhen und immer mehr verbreiteten KFZ-Besitz bei uns zusehends ins Hintertreffen. Vielleicht ist die Klimakrise ein Weckruf, sich wieder dieses Fortbewegungsmittel zu besinnen, das nie nur Mittel zum Zweck ist. Wer Italien "erfahren" möchte, der sollte wieder einmal Zugluft schnuppern, Reiselektüre einpacken und in den Gesichtern der Mitreisenden lesen lernen - bis zur Ankunft an einen der zahlreichen Kopfbahnhöfe des Landes.
Bitte nicht vergessen, das Ticket vor Antritt der Reise am Bahnsteig zu entwerten ...
Noch so eine Erinnerung:
Vor einiger Zeit präsentierte ich ein geniales Buch zum Thema an dieser Stelle
Reiseführer, Reiselektüre & Lokalführer