Reisetagebuch "Salomons Diario" - Folge 2
AQUA ALTA
Die Stadt steht mal wieder unter Wasser. Noch vor Sonnenaufgang hat mich die Hochwassersirene aus dem Schlaf gerissen. 93cm Aqua Alta wurde an den höchsten Stellen gemessen. Hüfthohe Gummistiefel und Regenponchos beherrschen heute die touristisch hochfrequentierten Zonen um den Markusplatz.
Viele Geschäfte bleiben auf Grund der hereinströmenden Wassermassen geschlossen und der kalte vom Meer kommende Wind tut sein Übriges dazu, Venedig heute von seiner unwirtlichsten Seite zu zeigen. In der hintersten Ecke von Castello, bei San Francesco della Vigna verkrieche ich mich hinter den Mauern des Klosters, das auf Grund seiner etwas erhöhten Lage dem Hochwasser trotzt und betrachte die Wasserkaskaden, die aus den heillos überforderten Regenrinnen auf das steinerne Pflaster des verwaisten Innenhofs herabströmen.
Verwilderte Katzen mit eingerissenen Ohren und struppigem Fell, die im Klosterkreuzgang sitzen und ebenfalls vor dem Regen Schutz suchen, reiben sich mit knurrenden Mägen schnurrend an meinen Hosenbeinen. Vom Kirchenschiff erklingen die mehrstimmigen Gesänge der Ordensbrüder. Ein kleines Mäuschen streckt seinen Kopf aus einer Ritze des Gemäuers und verschwindet sogleich wieder auf Nimmerwiedersehen in ihrer Behausung, als sie des ausgehungerten Katzenvolkes ansichtig wird.
Der Geruch von Weihrauch übertüncht das salzige Aroma der Lagune. In der Bar um die Ecke trinke ich meinen Espresso im Stehen und blättere durch die gestrige Ausgabe der „La Stampa“. Die ältere Dame hinter der Bar strickt an einer beigen Kinderweste mit aufgestickten Erdbeeren. Ihre Brillengläser sind verschmiert und ihre rotgefärbten Haare zu einem altmodischen Geflecht auf ihrem Kopf aufgetürmt. Der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben und in einem dünnen Rinnsal unter der Eingangstür bahnt sich das erste Aqua Alte seinen Weg in die Bar.
Quellenverweis zu Bild & Wort
Wolfgang Salomon
Der Autor und Fotograf betreibt mit seinem Bruder seit über 10 Jahren die Spezerei in Wien, eine kleine Osteria mit norditalienisch zugeschnittener Speisekarte, deren Ausführung den Koch in Wolfgang Salomon hervorbringt. Zudem ist er für zwei Bestseller in den Bücherregalen der letzten Jahre zuständig. Triest abseits der Pfade und Venedig abseits der Pfade machten ihn über Wien hinaus bekannt. Ein Tausendsassa mit Hang zu Italien, der zu unserer Freude italissimo exklusiv Auszüge aus seinem Reisetagebuch zur Verfügung stellt - ein klassisches "Fortsetzung folgt ...".